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Digitale Ökosysteme global gestalten – Zehn Jahre "Industrie 4.0"

| Industrie 4.0 | Lernende Systeme | Mensch Maschine Interaktion | Saarbrücken

Beitrag von DFKI-CEO Prof. Dr. Antonio Krüger im Unternehmermagazin, Ausgabe 1/2-2022.

Der Begriff „Industrie 4.0“ wurde in einem Namensartikel geprägt, der am 1. April 2011 kurz vor der Hannover Messe in den VDI-Nachrichten erschien und immer noch sehr lesenswert ist. Die drei Autoren waren Professor Henning Kagermann, damals Präsident von „acatech“, der „Deutschen Akademie der Technikwissenschaften“ e.V., Professor Wolf-Dieter Lukas, Abteilungsleiter und später Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), sowie Professor Wolfgang Wahlster, mein Vor-gänger als CEO des DFKI. Der programmatische Beitrag hieß „Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur 4. industriellen Revolution“. Hintergrund war, dass die Bundesregierung von 2006 bis 2013 in ihrer „Forschungsunion Wirtschaft Wissenschaft“ ein Beratungsgremium berufen hatte, um wissenschaftliche und wirtschaftliche Potenziale zu identifizieren, die insgesamt und sich ergänzend Chan-cen auf Sprunginnovationen mit erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung eröffnen sollten.

Die erste strategische Aussage dieser Arbeitsgruppe war, auf Deutschland als Produktionsstandort zu setzen und ihn aktiv weiter zu entwickeln. Diese Empfehlung basierte auch auf den frischen Erfahrungen aus der Finanz- und Eurokrise von 2008 bis 2010, die nicht durch die Dynamik des Dienstleistungssektors, sondern durch erfolgreiche Industrieproduktion überwunden wurde. Die Analyse der Megatrends, Entwicklungs-linien und Anwendungsperspektiven ergab, dass die Verschränkung von Digitalisierung, Vernetzung, Sen-sorenentwicklung und industrieller „KI“ ein neues Produktionsparadigma hervorbringen kann, das Deutschlands Stärken nutzt, das Wachstum sichert und durch technologische, soziale und organisatorische Innovationen, dafür sorgt, in der anbrechenden Ära der Plattformökonomie wettbewerbsfähig zu bleiben.

Nach dem Kürzel „Web 2.0“ war „Industrie 4.0“ der zweite „Versionsbegriff“ seit der Jahrtausendwende, der rasch auf die Gesellschaft, auf Bildung, Arbeit und Mobilität übertragen und dann schließlich zu „Leben 4.0“ generalisiert worden ist. Die „Industrie 4.0“ kam jedenfalls nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch sehr bald im deutschen Maschinen- und Anlagenbau an. Laut einer Studie der Impuls-Stiftung erklärten bereits im Oktober 2015 über drei Viertel der Branchenunternehmen, dass es zum Selbstverständnis von Technologieführern gehöre, sich mit dem Thema zu befassen.

Wichtig für die breite Adaption war auch die Aussicht auf bessere, sinnvollere Tätigkeiten, einschließlich der Inklusion älterer und gehandicapter Menschen, durch autonome Systeme und durch die Schaffung von Arbeitsplätzen im „Near Shoring“, also im Wege der Rückverlagerung von Produktionsstätten nach Deutschland, um die Logistikkosten, die CO2-Emissionen und die Abhängigkeit von den Kapriolen der in-ternationalen Tagespolitik zu verringern. Lauter Maßnahmen, um mehr Planungssicherheit zu bewirken.

In diesem Sinne stellt die „Industrie 4.0“ den Menschen in den Mittelpunkt, außerdem die Umwelt und die Natur. Daher bestanden zwei ökologische Ziele sofort in der Ressourcen- und in der Energieeffizienz. Die „Industrie 4.0“ kann tatsächlich einen erheblichen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leisten, und sie hat das Potential, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren, die das Wirtschaftswachstum vom Ressourcen-verbrauch entkoppelt, um Wohlstandsverluste und eine daraus resultierende gesellschaftliche Spaltung zu vermeiden. Wesentlich dafür sind die drei Kernkonzepte der „Industrie 4.0“, die „digitalen Zwillinge“, die dezentrale Steuerung und das aktive Produktgedächtnis. Dadurch, so schrieben die Autoren schon 2011, ließen sich die ökonomischen und die ökologischen Anforderungen einer „grünen Produktion“ für eine CO2-neutrale, energieeffiziente Stadt erfüllen. Dies bezog sich unter anderem auf die urbane Produktion, also auf die nachbarschaftliche Integration der Lebens- und Arbeitswelt, was nicht nur ökologisch, sondern auch sozial wünschenswert ist, da sie die Wege zur Arbeit verkürzt und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtert.

Das „Produktgedächtnis“ hatten wir am DFKI bereits ab 2008 in unserem Projekt SemProM bearbeitet, das Teil des IKT-2020 Forschungsprogramms des BMBF war, um die nächste Generation mobiler, eingebetteter und funkbasierter Elemente für die semantische Kommunikation zwischen Alltagsobjekten im Internet zu untersuchen. Konkret ging es darum, einen Rohling zu befähigen, auf alle Betriebs- und Maschinendaten zuzugreifen, um den gesamten Herstellungsprozess zu dokumentieren. Heute hat dieses Produktgedächtnis im Sinne des „Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten”, das im Juni 2021 vom Bundestag beschlossen wurde, eine neue, zusätzliche Bedeutung erhalten, da es zu einem wichtigen Baustein der vom Gesetzgeber geforderten Nachweispflicht geworden ist. Das Lieferkettengesetz, das 2023 in Kraft tritt, betrifft zunächst nur Unternehmen mit über 3.000 Mitarbeitern, soll aber ab 2024 auf Unternehmen mit über 1.000 Mitarbeitern ausgeweitet werden.

In der „Industrie 4.0“ stellt das aktive Produktgedächtnis die Fertigung vom Kopf auf die Füße, was zu einer Umkehrung der Steuerungslogik führt, da traditionell der Takt, der Arbeitsplan und die zentrale Steuerung herrschen. In der eng vernetzten Produktion dirigiert der Rohling hingegen die Herstellung des Produkts, das er im Ergebnis werden soll. So wird nicht nur die dezentrale Produktionssteuerung individueller Teile und von Kleinstserien möglich, was man auch als „Losgröße 1“ bezeichnet, sondern auch der Ressourcenverbrauch, also die Materialien und die eingesetzte Energie, wird für jedes einzelne Werkstück dokumentiert. Erforderlich dafür sind eine nahtlose Vernetzung und ein enger Informationsaus-tausch der beiden großen Systeme für Unternehmensplanung und Fabriksteuerung, ERP („Enterprise Resource Planning“) und MES („Manufacturing Execution System“).
Bei alledem können Anwendungen der „Industrie 4.0“ nicht über Nacht und vor allem nur dann umgesetzt werden, wenn Unternehmen bereits hinreichend digitalisiert sind. Zur Einschätzung der „Readiness“ gibt es auf der Homepage der Impuls-Stiftung einen kostenlosen Online-Selbsttest in sechs Dimensionen: Strategie und Organisation (Unternehmensentwicklung und Firmenkultur), „Smart Factory“ (digital vernetzte Produktion), „Smart Operations“ (digitale Prozesse), „Smart Products“ (entlang der Wertschöpfungskette vernetzter Produkte), „Data driven Services“ (datenbasierte Dienstleistungen durch die Vernetzung von Produkten, Produktion und Kunden), Mitarbeiter (Qualifizierung). Ein erstes Ergebnis erhält man nach einer Viertelstunde.

Die gute Nachricht für jeden Mittelständler, der eigene Digitalisierungslücken entdeckt, ist, dass die Kosten für das Retrofitting, also die digitale Veredelung von Bestandsanlagen, stark gesunken sind, so dass Nachholbedarf finanzierbar geworden ist. Noch wichtiger aber ist die Nachricht, dass für die Teilnahme an der „Industrie 4.0“ kein Neubau auf der grünen Wiese notwendig ist.

Was aber bietet der Ausblick und wo liegen die Chancen? 2020 haben Experten der „Plattform Industrie 4.0“ die Vision bis 2030 entwickelt und ihr Leitbild „Digitale Ökosysteme global gestalten“ genannt. Die drei Säulen sind Souveränität, Nachhaltigkeit und Interoperabilität. Bei der Souveränität geht es um die Erhaltung und die Schaffung freier Gestaltungsräume, um digitale Selbstbestimmung und digitale Geschäftsmodelle, um Technologieentwicklung, Sicherheit und um eine robuste, resiliente digitale Infrastruktur. Der Begriff der Nachhaltigkeit fokussiert moderne industrielle Wertschöpfung als not-wendige Voraussetzung für einen hohen Lebensstandard, gute Arbeit und Bildung, Klimaschutz, zirkuläre Wirtschaft und gesellschaftliche Teilhabe. Die Interoperabilität adressiert Kooperation und offene Öko-systeme für Pluralität und Flexibilität, aber auch die regulatorische Rahmensetzung und die technologische Standardisierung, die Bedeutung dezentraler Systeme und Künstlicher Intelligenz. Dies alles sind an-spruchsvolle Themen, und es wird sich zeigen, ob Deutschland die erforderlichen Investitionen und den ingenieurwissenschaftlichen Esprit aufbringen wird. Man darf jedoch optimistisch sein.

Ich erwarte jedenfalls, dass das durchgängig vernetzte, kundenindividuelle Produktionsökosystem 2031 die Norm sein wird. Eine Entwicklung, die mit der des Online-Bankings vergleichbar ist, das heute für viele Kunden längst normal geworden ist. Das war vor zehn Jahren noch ganz anders. Der 5G-Mobilfunk wird in der Fläche, vielleicht sogar als 6G, der Standard sein und in der Produktion eingesetzt werden, beispielsweise für die drahtlose und deshalb kabelbruchfreie Echtzeitsteuerung von Maschinen, aber auch im Hinblick auf die Mensch-Roboter-Kollaboration.

In diesem Sinne leistet die international standardisierte und industriell normierte „Industrie 4.0“ 2031 einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit, weil Lieferketten transparent sind und weil der Ressourcenverbrauch minutiös dokumentiert ist. Das „Produktgedächtnis“ bedeutet für den Markt und jede Marke, dass die Kli-mabilanz auf dem Beipackzettel steht, so dass informierte Käufer den stofflichen Verbrauch eines Produkts als Kriterium heranziehen können. Die eingesetzten Rohstoffe zu bezeichnen und zu dokumentieren, heißt aber auch, dass die „Industrie 4.0“ hilft, Recycling in Form einer Kreislaufwirtschaft zu realisieren. Und da-bei geht es nicht so sehr um ein Postulat der Postwachstum-Gesellschaft, als um die positive Klimabilanz im Einsatz natürlicher Rohstoffe.

In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der KI für den Erfolg der „Industrie 4.0“ zentral. Das gilt für das Maschinelle Lernen zur Klassifizierung und Auswertung sensorischer Daten zur Steuerung und Wartung von Maschinen, geht aber weit darüber hinaus. Sehr wichtig werden die Fortschritte in der hybriden bzw. in der neurosymbolischen KI sein, in der sich die Vorteile des datengetriebenen Maschinellen Lernens mit symbolischen modellbasierten Ansätzen verbinden. Die neurosymbolische KI schreitet bis 2031 zur Selbsterklärungsfähigkeit voran und wird somit in kritischen Situationen ihre Entscheidungen in einem Klärungsdialog nachvollziehbar begründen können. Das Paradigma lautet dann: Die Maschine berät, der Mensch versteht und entscheidet. So wird die Interaktion von Mensch und Maschine zu einem echten Dialog und zu einem Miteinander (fast) auf Augenhöhe.

Prof. Dr. Antonio Krüger, Wissenschaftlicher Direktor Forschungsbereich Kognitive Assistenzsysteme, Vorsitzender der Geschäftsführung Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), Saarbrücken

 

Link zum Magazin

 

Beitrag erschienen in Unternehmermagazin, Ausgabe 1/2-2022, Titelthema Standort Deutschland

Kontakt

Reinhard Karger M.A.
Unternehmenssprecher DFKI

Tel.: +49 681 85775 5253


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